Schottische Volkslieder erlebten im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Schottland, vor allem aber in England einen Boom. Schon um 1700 setzte das Sammeln der alten Melodien und Texte ein, die in zahllosen „Collections" und „Selections" auch veröffentlicht wurden.

Als „Volkslieder" verstand man neben traditionellen Liedern dabei auch Neudichtungen bzw. Neukompositionen. Die Liedsammlungen der Zeit enthalten nicht selten sowohl altes als auch neues Liedgut. Oft wurde alten Melodien aber auch ein aktueller Text unterlegt. Das war möglich, da Text und Melodie nicht als unverbrüchliche Einheit verstanden wurden.

Einige Verleger gewannen prominente europäische Komponisten als Bearbeiter für ihre Liedsammlungen. Dass Komponisten wie Haydn, Beethoven und Weber es sich nicht nehmen ließen, schottische Lieder zu bearbeiten, zeigt, wie hoch das Prestige (und wie gut die Bezahlung) dieser Arbeiten war.

Im Schaffen Joseph Haydns (1732 - 1809) bilden die Bearbeitungen der Volkslieder einen überraschend großen Bereich. Haydn schrieb zwischen 1792 und 1804 im Auftrag von drei schottischen Verlegern, William Napier, George Thomson und William Whyte, über 400 Bearbeitungen. Sie gehören zu den letzten Kompositionen, die ihn beschäftigten, und stehen als Teil seines Spätwerks in einer spannungsvollen Beziehung zu den Oratorien „Die Schöpfung" und „Die Jahreszeiten", den großen Messen und den letzten Streichquartetten. Dass die Bearbeitungen bislang eher im Schatten der übrigen Spätwerke Haydns standen und erst einige wenige von ihnen überhaupt aufgeführt wurden, liegt nicht zuletzt daran, dass nur ein sehr kleiner Teil in Neuausgaben verfügbar war. Das änderte sich 2009: In der Gesamtausgabe Joseph Haydn Werke, die vom Kölner Joseph Haydn-Institut herausgegeben wurde und im G. Henle Verlag, München, erschien, stehen nun die Bearbeitungen in einer nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen erarbeiteten Edition zur Verfügung.

In der Gesamtausgabe wurden erstmals sämtliche Bearbeitungen Haydns gedruckt. Auf dieser Basis konnte ein Projektteam unter der künstlerischen und organisatorischen Leitung des Pianisten Harald Kosik 2009 eine vollständige Einspielung vorlegen - zum ersten Mal in der Geschichte des Tonträgers. Rund 40 der Lieder, die Haydn im Auftrag des schottischen Volksliedsammlers George Thomson bearbeitete, blieben zu Haydns Lebzeiten unveröffentlicht. Da Thomson die Manuskripte nicht aus der Hand gab, dürften diese Lieder auch nicht anderweitig in Umlauf gekommen sein. Vermutlich wurden sie noch nie seit ihrer Entstehung aufgeführt.

Ihre Uraufführung erfolgte im Rahmen der Einspielung von Lorna Anderson (Sopran), Jamie MacDougall (Tenor) und des Haydn Trios Eisenstadt (Besetzung der Einspielung: Harald Kosik, Klavier - Verena Stourzh, Violine - Hannes Gradwohl, Cello).